Wiener Kinder

Wie kam es zu dieser Geschichte, zu dieser großartigen humanitären Aktion?

Ein Bruder des Rechtsanwalts Dr. Sigurd JACOBSEN arbeitete in den Jahren 1918/19 als Arzt am Wiener Allgemeinen Krankenhaus. Die kranken und ausgehungerten Kinder, die er hier zu behandeln hatte, lagen ihm sehr am Herzen. Dies ging so weit, dass er sich eines Tages nicht mehr zu helfen wusste und an seinen Bruder nach Dänemark mit Nachdruck einen verzweifelten Hilferuf richtete. In etwa in dem Wortlaut: „WIR BRAUCHEN HIER DRINGEN HILFE UND DIES SOFORT !“

Dr. Sigurd JACOBSEN; der eine Rechtsanwaltskanzlei in Dänemark führte, handelte rasch und sehr effizient. Er schloss seine Kanzlei, holte sich eine Lehrerin zur Mitarbeit und begann sein Werk. Vorerst mobilisierten Sie dänische Familien, die bereit waren, Kinder aus dem Nachkriegswien, für einige Zeit aufzunehmen. Nachdem dies geschaffen war, wurden noch Sponsoren aufgetrieben, die bereit waren, die Kohle zu kaufen, damit der Zug überhaupt von Wien nach Dänemark fahren konnte. Ja, und dann war es endlich soweit, alles war am Platz und der große Augenblick rückte immer näher. Am 16. September 1919 kam dann zum ersten Mal das grüne Abfahrtssignal für einen Zug mit mehr als 500 kranken und ausgehungerten Kindern vom Wiener Franz Josefs Bahnhof nach Dänemark. Damit war der Beginn einer großartigen humanitären Aktion geschehen. In der Folge gab es monatlich Züge mit Kindern nach Dänemark.

Ein Beispiel nur: Frau Elisabeth Keutmann fuhr am 8. März 1920 als 8 jähriges Mädchen auch mit so einem Transport mit. Ihre ersten Worte in Dänemark waren: „In drei Monate soll ich wieder nach Hause“. Das Ende dieser Geschichte ist, dass Frau Keutmann in Kopenhagen zur Schule ging, eine Lehre machte, heiratete und heute noch in der Wohnung lebt, in die Sie 1920 als 8. Jähriges Mädchen zum ersten Mal zu dänischen Pflegeeltern kam. Frau Keutmann verstarb am 10.07.2010 im 98ten Lebensjahr. Sie war Präsidentin des Wiener Clubs in Kopenhagen seit mehr als 35 Jahren. Mit ihr wurde auch der Wiener Club zu Grabe getragen.

Das Schicksal dieser Wiener Kinder bewegte ganz Dänemark. In einem Buch über Sigurd JACOBSEN in dänischer Sprache, mit dem Titel „ Wiener Kinder auf Landflucht“ wird beschrieben, wie Kinder Briefe an das Aktionsbüro und sogar an den dänischen König geschrieben haben, damit sie länger in Dänemark bleiben dürfen. Ein 8jähriger Bub, namens Franzi schrieb: „Bitte lieber Herr König, darf ich länger in Dänemark bleiben.“ Denn es war ursprünglich vorgesehen, dass diese „Wiener Kinder“ nur für drei Monate bleiben dürfen. Doch viele Schicksale in Wien (Vater im Krieg gefallen, oder in Gefangenschaft, weitere Geschwister, keine Arbeit usw.), machte eine Rückkehr nach Wien beinahe unmöglich. Kinder zurück ins Elend schicken, das konnten die herzensguten dänischen Eltern nicht zulassen. Dies ging soweit, dass Pressekampagnen in Dänemark gestartet wurden, um die Kinder länger als ursprünglich vorgesehen in Dänemark belassen zu dürfen. Schlussendlich kam die „Aktion Wiener Kinder“ ins dänische Parlament. Dort wurde dann beschlossen, dass bezüglich der Aufenthaltsgenehmigung der Wiener Kinder individuell entschieden werden darf. Dies hatte zur Folge, dass es heute sehr viele Mischehen zwischen Dänen und Österreicher gibt, die zum Teil in Dänemark und zum Teil in Österreich gelebt werden. Die Aktion „Wiener Kinder“ wurde auch nach dem zweiten Weltkrieg wieder aktiviert und auch diese Kinder wurden mit derselben Liebe und Herzlichkeit von den dänischen Familien aufgenommen und zum Teil auch integriert.

Es waren insgesamt an die 40.000 Kinder nach den beiden Kriegen die in Dänemark wieder lachen lernten, keinen Hunger leiden mussten und den Glauben ans Leben wieder gefunden haben. Diese „Wiener Kinder“ sind zum Großteil heute noch in großer Dankbarkeit mit Dänemark verbunden und denken an diese Zeit mit Freude und Demut zurück. Ein Denkmal mit der Büste Sigurd Jacobsen steht in einer großen Siedlung der Gemeinde Wien unweit des Matzleinsdorfer Platz, mit der Inschrift: Sigurd Jacobsen, der Retter Wiener Kinder.

Im 19. Wiener Gemeindebezirk an der Billrothstrasse gibt es eine große Wohnsiedlung der Gemeinde Wien, die im Jahre 1962 Kopenhagen Hof benannt wurde. Auch eine Dänenstrasse gibt es im 18. Bezirk. Diese Benennungen wurden von der Gemeinde Wien als Dank und Erinnerung an Dänemark für die großartigen Kinderhilfe durchgeführt.

Eine nette Geschichte aus der Zeit der „Wiener Kinder“ in Dänemark!

Über diese großartige, humanitäre Hilfsaktion der dänischen Bevölkerung, die sie den Kindern, hauptsächlich aus Wien, aber auch aus Teilen der österreichischen Bundesländer, angedeihen ließ, wurden bereits Bücher geschrieben. Sowohl in deutscher, als auch in dänischer Sprache. Viele Freundschaften, ja auch Beziehungen sind aus dieser Zeit entstanden und bestehen heute noch. So erreichte mich vor einiger Zeit eine ebenfalls sehr nette und ja, auch bemerkenswerte Erzählung aus dieser Zeit. Ein lieber, langjähriger und besonderer Freund sandte mir Unterlagen aus der Zeit kurz nach dem zweiten Weltkrieg.

Sein Vater, Herr Prof. Dr. Asger Westergaard Poulsen war an der Hillerød Statsskole als Lehrer angestellt. Er unterrichtete in den Fächern Deutsch, Religion und Handwerk. Er war in seiner Familie bereits der zweite Deutschlehrer. Mein lieber Freund, Herr Prof. Finn Westergaard Poulsen, Sohn des Herrn Prof. Dr. Asger Westergaard Poulsen, wie naheliegend, ist der dritte Deutschlehrer in der Familie. Genießt aber bereits seinen mehr als wohlverdienten Ruhestand. Aber nun zu den Geschehnissen, die mir zugekommen wurden.

Die ersten Kindertransporte, nach dem zweiten Weltkrieg kamen in Dänemark, ungefähr Herbst 1947 an. Genaue daten sind etwas widersprüchlich. Erwähnt sollte doch werden, dass bereits nach dem ersten Weltkrieg, gut 26 000 Kinder, in Dänemark zur Erholung waren. Aus dieser Zeit, sowie auch aus der Periode nach dem zweiten Weltkrieg entstanden viele Beziehungen und lebenslängliche, tiefe Freundschaften.

Bei diesen Kindern, die nun bei der wieder aufgenommenen Hilfsaktion nach Dänemark gekommen sind, war eine Gruppe von Kindern aus der Klasse 4B, der Schule in der Stiftgasse, im siebenten Wiener Gemeindebezirk dabei. Diese Kinder waren in der Gegend von Hillerød/Sjælland(Seeland) untergebracht. Sie dürften unter anderem auch in die schulische Obhut von Herrn Prof. Dr. Asger Westergaard Poulsen gekommen sein.

Es ist wahrscheinlich nicht ganz unwesentlich, zu erwähnen, dass diese Kinder aus zum Teil nur mehr halben Familien kamen. Familien, die nur mehr aus Müttern und Kindern bestanden. Die Väter einerseits noch in fremdländischer Kriegsgefangenschaft, oder im Krieg leider gefallen. Es herrschten zusätzlich große Armut in Wien. Mit diesen Dänemark Aufenthalten, sollten die Kinder eine Zeit aus diesem tristen Alltag wegkommen und Erholung finden.

Zu erwähnen ist unbedingt noch, dass Herr Prof. Dr. Asger Poulsen freiwillig die Aufgabe übernommen hat, sich um diese Kinder aus Wien ganz speziell kümmern zu wollen. Diese Kinder dürften, so lässt sich vermuten, viel Zeit mit dänischen Kindern gemeinsam in einer Klasse verbracht haben. Dies lässt sich aus einigen Briefwechseln erklären. Denn, nachdem die Kinder wieder in waren, wurde der gegenseitige Kontakt weiter gepflegt.

So hielt auch Herr. Prof. Dr. Asger Westergaard Poulsen und seine Familie Kontakt mit den Lehrern in Wien. Eine davon war Frau Hofrat Dr. Anna Novak. Sie ist für Herrn Prof. Finn Westergaard Poulsen zur „Ruftante“ geworden. Frau Hofrat Dr. Anna Novak hatte einen, heute nicht mehr lebenden, aber sehr berühmten Nachbarn. Niemand geringerer als Gustav Klimt wohnte mir ihr, Tür an Tür!

Nun, die Kinder in Wien, hatten nach ihrem Dänemark Aufenthalt sehr viel die Märchen des berühmten dänischen Dichters, Hans Christian Andersen gelesen. Sie wollten nun ihren „Schulkollegen“ in Dänemark eine Freude bereiten und damit auch ihre Dankbarkeit unter Beweis stellen. Nach dem Lesen dieser Märchen, haben sie sich selbst ausgedachte Zeichnungen einfallen lassen und diese zu Papier gebracht. Mit einem Begleitschreiben, wurden diese dann nach Dänemark gesandt. Bemerkenswert an diesem Schreiben ist, dass dies als zeithistorisches Dokument betrachtet werden darf. Ist doch, vom Betrachter aus, links unten, der Stempel der Zensur zu erkennen. Österreich war zu dieser Zeit noch von den Siegermächten besetzt. Der siebente Bezirk war damals von der amerikanischen Besatzungsmacht kontrolliert. Nachstehend einige der Zeichnungen der Schüler der 4B, der Schule in der Stiftgasse. Auf der Rückseite der Zeichnungen haben die Kinder ihre Namen und die Adressen notiert. Dadurch kam es noch lange zu sehr intensiven Briefkontakten und wahrscheinlich auch persönlichen Freundschaften.
Diese Zeichnungen fanden natürlich großen Anklang in Dänemark. Herr Prof. Dr. Asger Westergaard Poulsen sandte diese Bilder an die Kinder seiner Schulklasse und schrieb dazu nachstehenden Text:
Die deutsche Übersetzung dazu:

„Hillerød, den 28.Mai 1948 Diese Zeichnungen über Märchenmotive habe ich aus Wien entgegengenommen. Schüler im Alter 13 bis 15 Jahren, hatten da im Winter, so viel Freude mit dem Lesen von Hans Christian Andersen Märchen, sodass sie den dänischen Schülern, auf diese Weise, dankbare Grüße senden wollen. Wenn jemand von Euch Lust hat einen Gruß zurück senden zu wollen, die Adressen könnt Ihr von mir bekommen. Unterschrift: Asger Poulsen „

Mit Sicherheit darf davon ausgegangen werden, wie schon weiter oben in der Geschichte erwähnt, dass daraus einige Brieffreundschaften, wenn nicht auch persönliche Freundschaften entstanden sind.

Leider gibt es heute in der Schule in der Stiftgasse keinerlei Aufzeichnungen mehr aus dieser Zeit. Trotzdem darf ich behaupten, wieder ein kleines Puzzleteil zu den wunderbaren Geschichten der dänischen humanitären Kinderhilfsaktion „Wiener Kinder!“ gelegt zu haben.